Du hast sicher schon ein paar Mal den Satz gehört: „Oh, das kann ich nicht machen, ich habe Probleme mit der Bandscheibe!“ Vielleicht hast Du das selbst sogar schon mal gesagt. Hört sich erstmal plausibel an, oder? Ist es aber nur bedingt. Dieser Artikel soll Antworten auf die wichtigsten Fragen zum Thema Bandscheibenprolaps geben.
Heute möchten wir etwas mehr Klarheit über die Thematik des Bandscheibenvorfalls schaffen: Sowohl für den Umgang mit Deinen Bekannten, die schon längere Zeit über ihren Vorfall klagen, als auch für Dich, falls Du selbst die Diagnose Bandscheibenprolaps – auch genannt Bandscheibenvorfall– hast und nicht ganz weißt, wie das einzuordnen ist.
Was ist ein Bandscheibenprolaps überhaupt?
Anatomisch gesehen tritt beim Bandscheibenvorfall der sogenannte Gallertkern, welcher sich in der Mitte Deiner Bandscheibe befindet, aus. Die Bandscheibe als Ganzes dient als stabile, widerstands- und anpassungsfähige „Dämpfung“ zwischen den knöchernen Wirbelkörpern Deiner Wirbelsäule. Vorstellen kannst Du Dir die Bandscheibe und deren Kern wie einen Autoreifen mit einer großen Menge gekautem Kaugummi in der Mitte (danke an Adam Meakins für diese Analogie). Sowohl Kern als auch Ummantelung der Bandscheibe sind also sehr zäh und fest. Durch eine gewisse Flexibilität fungieren die einzelnen Bandscheiben aber auch als Gelenk und ermöglichen uns verschiedene Bewegungen der Wirbelsäule.
Um anatomische Veränderungen in direktem Zusammenhang mit der Bandscheibe zu verstehen, müssen wir also erstmal verstanden haben, dass diese an sich robust und anpassungsfähig sind. Das heißt auch, dass die Bandscheibe Bewegung und Belastung in angebrachtem Maß nicht nur toleriert, sondern abhängig davon ist, um voll funktionsfähig zu sein. Durch Gewebeflüssigkeit finden sich unsere Bandscheiben im ständigen Nährstoffaustausch. Fehlen uns Bewegung und/oder Belastung, läuft dieser nur eingeschränkt ab. Ähnlich, als würdest Du Dein Bein eingipsen, führt das mittel- bis langfristig zur Rückbildung aller Strukturen des Kniegelenks. Wir brauchen also, wie in allen Gelenken des Körpers, Bewegung und Belastung, um gesunde Bandscheiben zu haben und bestenfalls auch zu behalten. Gesteigerte, wiederkehrende Belastungen machen unsere Bandscheiben sogar noch robuster.
Die 3 Arten des Bandscheibenprolaps
Der Bandscheibenvorfall selbst wird in verschiedene Abstufungen unterteilt, welche alle unterschiedliche Heilraten haben. Ja, Du hast richtig gehört: Bandscheibenvorfällen verheilen in einem Großteil der Fälle von selbst! Im Schnitt zu rund 80%. Unterschieden wird zwischen dem „abgetrennten“ (nicht mehr in Kontakt mit der Bandscheibe, ein Teil des Kerns ist „abgelöst“) Austreten des Gallertkern, sowie dem „angebunden“ (Gallertkern hat noch durchgehenden Kontakt zur Bandscheibe, hier wird der Kaugummi also durch einen Riss im Autoreifen nach außen gedrückt). Außerdem gibt es noch die sogenannten Bandscheibenvorwölbungen (auch bekannt als Bandscheibenprotrusion), bei welchen der Gallertkern zwar innerhalb der äußersten Faserringe der Bandscheibe (des Autoreifens) bleibt, diese jedoch in einer bestimmten Richtung „ausbeult“. Das ist die Vorstufe eines Bandscheibenvorfalls, welcher aber auch zu rund 40% selbst verheilt. In allen 3 Szenarien kann das Kernmaterial die Nervenwurzel eindrücken, was auch zu Schmerzen führen kann.
In den meisten Fällen findet der Prozess der Selbstheilung innerhalb von 12 Monaten statt. Ist bei Dir oder jemand Deiner Bekannten der Bandscheibenvorfall also schon über 12 Monate her, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Dein Körper sich schon darum gekümmert hat und dieser bereits verheilt ist.
Kommen alle Rückenschmerzen vom Bandscheibenvorfall?
Wenn es so einfach wäre, könnten wir uns einfach unters Messer legen, das überschüssige Kernmaterial entfernen und unsere Schmerzen wären weg. Oder im schlimmsten Fall warten wir statistisch gesehen maximal ein Jahr und unser Körper hat durch Selbstheilung das Problem gelöst, wodurch wir keine Schmerzen mehr haben.
Wie Du Dir sicher aber schon denken kannst, entspricht das nicht der Realität. Die Wahrscheinlichkeit ist auch hoch, dass Du einige Menschen mit Rückenschmerzen kennst, die diese schon weitaus länger als 1 Jahr haben. Schmerz ist immer multifaktoriell und kann fast nie mit hundertprozentiger Sicherheit auf eine einzelne Ursache festgelegt werden. Dafür sind Schmerzen einfach zu komplex, mit zu vielen Einflussfaktoren. Um ein paar mögliche weitere Ursachen genannt zu haben: Psychosoziales wie Stress und der Alltag, die tägliche Bewegung insgesamt, nächtlicher Schlaf, unsere Glaubenssätze und Erwartungen, Genetik, Traumata aus der Vergangenheit, Rauchen, die Einstellung gegenüber dem Schmerz. Und das sind bei Weitem nicht alle.
In diesem Zusammenhang ist sehr wichtig zu verstehen, dass ein Bandscheibenvorfall zwar auch eine mögliche Schmerzursache sein kann, dieser aber auch überhaupt nichts mit Deinen individuellen Schmerzen zu tun haben könnte. So gab es schon diverse MRT-Untersuchungen von großen Menschengruppe ohne Rückenschmerzen, bei denen ein beachtlicher Anteil der Menschen Bandscheibenvorfälle in verschiedensten Ausprägungen und Orten hatte. Es wurde beispielsweise in der Untersuchung von Jensen und Kollegen (1994) bei rund 64% der knapp 100 Untersuchten schmerzfreien Menschen Schädigungen der Bandscheiben festgestellt. Dabei wurde nicht selten die Nervenwurzel verengt, was laut klassischem Verständnis zu starkem Schmerzen führen sollte. Ist aber eben nicht (immer) so.
Die falsche Schuldzuweisung der Schmerzursache liegt oft in der Herangehensweise der Ursachensuche: Du hast starke Rückenschmerzen, also gehst Du zum Arzt. Dieser überweist Dich an einen Radiologen für ein MRT des betroffenen Wirbelsäulenbereichs und A-HA! Ein Bandscheibenvorfall, das muss es dann ja sein!
Ob dieser anatomische Schaden aber erst seit einer Woche oder bereits seit zehn Jahren vorliegt, kann unmöglich geprüft werden, wenn über die Jahre davor nicht mehrere MRT-Bilder des gleichen Bereichs gemacht wurden. Es ist also nicht erkennbar, ob es sich dabei um eine Narbe oder frische Wunde handelt. Da wir inzwischen auch wissen, dass es eine Menge asymptomatischer Bandscheibenvorfälle gibt, kann außerdem nicht mit Sicherheit gesagt werden, dass daher Deine Schmerzen kommen (und nicht von einer der vielen anderen möglichen Ursachen).
Ein Bandscheibenprolaps kann die Ursache Deiner Rückenschmerzen sein, muss aber nicht
Wie bei Deinem Bekannten, der seit Jahren bei keinem Umzug mehr hilft, weil er „Bandscheibenprobleme“ hat, ist auch bei einem Großteil der Menschen der Bandscheibenvorfall als klare, einschränkende Schmerzursache bekannt. In den obigen Absätzen habe ich aufgezeigt, dass wir umdenken und weg von dieser veralteten Vorstellung müssen.
Ja, es gibt Schmerzbilder, die durch funktionelles Testing mit einem Bandscheibenvorfall in direkte Verbindung gebracht werden können. Und ja, akute Bandscheibenvorfälle können in manchen Fällen auch zu neurologischen Ausfällen (wie einem tauben Bein) oder auch starken Schmerzen führen.
Das ist aber nur eine mögliche Ursache, auf die wir – außer durch eine OP – keinen Einfluss haben. Auch wenn der Chirurg gerne beim Betrachten des MRT-Bildes schon sein Messer schärft, ist in vielen Fällen keine OP notwendig. Aufgrund der genannten Selbstheilungskräfte unseres Körpers, der fehlenden Eindeutigkeit, dass wirklich der Bandscheibenvorfall die Schmerzen verursacht und der vielen anderen Einflussfaktoren, die jeder von uns auch ohne OP selbst in der Hand hat.
So wird aus „muss sofort operiert werden“ mit diesem Verständnis eine „normale Alterserscheinung.“
Was kann ich also bei einem Bandscheibenprolaps tun?
Nachdem Du verstanden hast, dass Du (oder Dein Bekannter mit seiner Ausrede) einen größeren Anteil Deiner Schmerzen selbst in der Hand hast, als Du vielleicht bisher geglaubt hast, kann ich Dir Folgendes empfehlen:
Bleib positiv, bleib in Bewegung und mache mit Deinem Körper all das, was Du kannst!
Weder Deine Bandscheiben noch Deine Wirbelsäule oder Dein Körper an sich sind zerbrechlich! Höre auf die Reaktionen Deines Körpers und passe in Akutphasen Deine täglichen Aktivitäten an. Sind die Schmerzen bei oder nach gewissen Aktivitäten sehr stark, reduziere diese für einen gewissen Zeitraum oder lasse sie für ein paar Tage bis Wochen komplett weg. Langfristig solltest Du aber wieder zur „vollen Funktion“ Deines Rückens zurückkehren, dass Du Dich flexibel und frei bewegen kannst. Dadurch erhältst Du Dir Deine Lebensqualität und kannst auch mal spontan mit Freunden Wandern gehen, mit Deinem Kind spielen oder sonstige körperliche Aktivitäten ausführen, die Dir Freunde bereiten!
Keine zwei Rückenschmerz-Bilder sind genau gleich, weshalb die individuelle Betrachtung von Deinem Alltag, mit all seinen Belastungen und Gewohnheiten, so wichtig ist. Während manche Menschen (mit oder ohne Bandscheibenvorfall) beispielsweise Rückenschmerzen in Situationen kriegen, bei welchen sie mit rundem Rücken etwas Schweres aufheben, ist es bei anderen genau umgekehrt! Die gleiche Varianz gibt es beim Stehen oder Sitzen, in Ruhe oder in Bewegung, im oberen oder unteren Rücken und vieles Weitere. Besonders in der Akutphase gibt es hier kein grundsätzliches „richtig“ oder „falsch“.
Denk dabei immer daran, dass Du wegen Deinem diagnostizierten Bandscheibenvorfall kein hoffnungsloser Fall bist, sondern viel mehr, dass die Statistik auf Deiner Seite ist. Wenn Du also in Bewegung bleibst, bewusst an Deinen Alltag und Deine Schmerzen rangehst und Dich in gesunden Gewohnheiten übst, stehen die Chancen gut, dass Du Dir Deine volle Lebensqualität zurückholst: Ohne Rückenschmerzen.