Für viele ist Neuroathletiktraining (NAT) noch ein Fremdwort. Es kursieren viele falsche Vorstellungen um diesen noch sehr jungen Trainingsansatz – etwa, dass es mit Gehirnjogging gleichzusetzen wäre oder es sich ausschließlich für Spitzensportler eignen würde. Tatsächlich ist es aber viel mehr als das. Erfahre in diesem Blog Artikel alle wesentlichen Einzelheiten rund um NAT und die Top 5 Übungen.
Ludwig Kupferschmid hat in seinem Beitrag schon sehr gut beschrieben, was Neuroathletik ist, wie man sich unser Gehirn vorstellen muss und was es auszeichnet: Zum Blog Beitrag
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Ich fasse kurz die wichtigsten Anhaltspunkte zusammen: Es handelt sich um eine ganzheitliche Betrachtung des Sportlers/Patienten für eine sichere und zugleich schnelle Zielerreichung. NAT ist die Betrachtung menschlicher Leistung/menschlichen Verhaltens aus der Sicht des Nervensystems. Man testet und trainiert Hirnareale (Teile des Nervensystems), die bei der Erbringung spezifischer Bewegungen/Zielsetzungen relevant sind. Deswegen ist eine individuelle Herangehensweise oft am besten geeignet.
Im Folgenden möchte ich Dir meine BIG 5 der besten Neuroathletik-Übungen vorstellen. Wenn Du diese Übungen anhand meiner Anleitung vielleicht sogar direkt ausprobieren möchtest, dann verstehst Du, warum diese Übungen ein Gamechanger für jeden sind.
Mache Dir diese Funktion Deines Gehirns zunutze
Dein Gehirn entscheidet in jedem Moment, ob Du Dich in einer lebensbedrohlichen Situation befindest oder nicht. Denn seine primäre Aufgabe ist es, Dein Überleben zu sichern. Dafür benötigt es gute Informationen aus Deiner Umgebung und natürlich auch aus dem Inneren Deines Organismus. Je besser dieser Informations-Input über Deine Sinnesorgane läuft und interpretiert werden kann (Integration), desto mehr Informationen stehen Deinem Gehirn für eine gute Entscheidungsfindung (Output) zur Verfügung. Da bedeutet eine bessere Beweglichkeit, mehr Schnelligkeit, mehr Kraft oder auch das Ausbleiben von Schmerzen.
Neben den Sinnesorganen sind auch Deine Muskel- und Gelenkrezeptoren wichtige Inputgeber. Zu den wichtigsten Integrationszentren gehören u.a. der Insellappen und das Mittelhirn. Zum Output Deines Nervensystems gehört nahezu alles, was uns auszeichnet – unsere Beweglichkeit beim Yoga, unsere Kraft beim Bankdrücken, aber auch unsere wahrgenommenen Gedanken und Gefühle.
Kennst Du schon den Homunculus?
Wenn Du ihn noch nicht kennst, solltest Du Dich schnell nach einem ersten Date erkundigen! Der Homunculus ist eine Figur, die durch ihre Körperdarstellung die Größe der Körperteile im Großhirn widerspiegelt. Genau genommen gibt es sogar zwei Homunculi: den motorischen und den sensorischen. Einer spiegelt die Sensorik Deiner Körperteile wider, während der andere Deine motorischen Fähigkeiten repräsentiert. Wie zwei Geschwister unterscheiden sie sich in einigen Merkmalen, aber in vielen wesentlichen Punkten fallen Gemeinsamkeiten auf: groß ausgeprägte Mundpartie inklusive Zunge, Hände, Finger, Füße sowie Zehen.
5 effektive Neuroathletik-Übungen
Nun kommen wir auch schon zu den Übungen, die ich Dir in diesem Artikel vorstellen möchte. Wenn Du die Möglichkeit hast, probiere sie direkt aus!
Gesunde Hände und gesunde Füße bedeuten ein gesundes Gehirn
Die ersten beiden Drills drehen sich um die Mobilisation der Handwurzelknochen und die der Fußwurzelknochen.
#1 Übung: Führe für die Mobilisation der Handwurzelknochen bewusste 8er-Bewegungen aus. Versuche dabei Deine Handgelenke so in Bewegung zu setzen, dass Du zum einen die „liegende Acht“ mit Deinem kleinen Finger und zum anderen mit Deinem Zeigefinger vorgibst. Versuche dabei eine „schöne“ Acht zu „malen“. Das heißt: so groß wie möglich, ohne dass die benachbarten Gelenke daran teilnehmen, und mit gleichmäßigem Tempo bei voller Kontrolle der Bewegung.
#2 Übung: Stelle Dich für die Mobilisation Deiner Mittelfußknochen (Toe Pulls oder „Zehenziehen“) in einer kurzen Ausfallschrittposition auf und setze Deinen hinteren Fuß so auf den Boden, dass Du mit der Spannseite Deiner Zehen auf dem Boden aufliegst (ggf. ist eine weiche Unterlage angebracht). Drücke nun die Zehen sanft in den Boden und aktiviere Dein Bein so, als ob Du den hinten liegenden Fuß über den Boden ziehen wölltest (nur aktivieren, nicht wirklich über den Boden ziehen!)
Die beiden Homunculi haben deshalb so große Hände und Füße, weil hier enorm viele Knochen und Gelenke aufeinandertreffen, viele Muskeln feinkoordiniert zusammenarbeiten müssen und somit mehr Informationen aus den beiden Bereichen ins Gehirn gemeldet werden als z.B. aus dem Knie. Folglich ist es enorm wichtig, dass wir unsere Hände und Füße immer pflegen und in „Schuss“ halten, denn unsere Muskeln (Motorik) und Rezeptoren (Sensorik) werden durch die beiden Übungen stimuliert.
Liegestütz für die Augen
Doch auf dem Weg, die die Informationen von den Rezeptoren Deiner Hände und Füße bis zu Deinem Großhirn (Bewusstsein) zurücklegen, kann noch einiges verloren gehen. Wichtige Schaltstellen zum Verarbeiten dieser Informationen sind, wie schon beschrieben, u.a. das Mittelhirn und der Insellappen.
#3 Übung: Im Mittelhirn befinden sich die Nervenkerne von zwei Deiner insgesamt sechs Augenmuskeln. Diese kannst Du stimulieren, indem Du Deine Augen zum „Schielen“ bringst. Das ist für mich die dritte Neuroathletik-Übung der BIG 5. Liegestütz für die Augen (englisch „Pencil Push Up“), weil man hierbei einen Stift fixiert und ihn so nah zu den Augen bewegt bis sie sich zur Nase bewegen. Diese Übung kannst Du weiter ausführen, in dem Du den Stift zur Nasenspitze und direkt zwischen Deine Augen hin- und herbewegst.
Kleiner Zusatzeffekt: die Stimulation des Mittelhirns aktiviert die Beugemuskeln Deines Körpers. Wenn Du also Deine Biceps-Curls verbessern oder mit Deinen Fingern näher zu Deinen Fußspitzen kommen willst, solltest Du direkt vorher Deine Augen Liegestütz machen lassen.
Die richtige Zungenposition finden
Ein weiteres wichtiges Integrationszentrum, um Informationen zu verarbeiten ist der Insellappen. Hier werden neben sensorischen Informationen aus Deinen Augen, Deinem Gleichgewichtsorgan sowie Deinen Muskeln und Gelenken auch Informationen aus dem Körperinneren verwertet.
Übung #4: Wie wir schon bei den beiden Homunculi gesehen haben, spielt die Zunge in unserem Großhirn eine ausgesprochen wichtige Rolle. Da sie ebenfalls im Körperinneren liegt, besteht eine große Chance via Zungenübungen einen starken Einfluss auf unseren Insellappen auszuüben. Zudem wird die Zunge von 5 Hirnnerven versorgt. Du siehst also: die Zunge scheint enormes Potential zu haben. Versucht dafür folgende „physiologische“ Übung/Zungenposition:
- Die Zungenspitze sollte gleichzeitig hinter und über den beiden vorderen Zähnen liegen. Sie sollte die Vorderzähne nur ganz leicht berühren. Du kannst diese Stelle finden, indem Du ein langgezogenes „N“ machst.
- Der hintere Teil der Zunge sollte in Kontakt mit dem Gaumen sein, idealerweise innerhalb der Zähne. Im Idealfall sollte er leicht nach oben und nach vorne gedrückt werden. Solltet ihr Probleme haben diese Position einzunehmen, empfiehlt es sich, die Zunge wie bei 1. an die Zähne zu legen. Danach zu lächeln und anschließend zu schlucken. Somit bewegt sich die Zunge automatisch an die vorgesehene Stelle.
- Die Lippen sollten leicht geschlossen sein.
- Die Zähne sollten sich leicht berühren oder fast berühren.
Um zu überprüfen, ob diese Übung gut für Dich geeignet ist, könntest Du die Bewegung, die Dir Schmerzen bereitet, mit und ohne entsprechender Zungenposition ausführen. Gern kannst Du auch Deine Kraft bei verschiedenen Übungen in dieser Weise testen. Es ist durchaus möglich, dass die „richtige“ Zungenposition Dich stärker und/oder schmerzresistenter macht. Du solltest allerdings sicherstellen, dass Du die Zunge auch dementsprechend lang halten kannst.
Unser GPS – das Gleichgewichtssystem
Zum Abschluss meines Best Of‘s möchte ich Dir gern noch Dein GPS vorstellen: das Gleichgewichtssystem. Dieses befindet sich in Deinem Innenohr und hat zunächst erst einmal nichts mit Einbeinstand und ähnlichen wackeligen Positionen zu tun. Es registriert jede Lageveränderung und Beschleunigung unseres Kopfes und arbeitet dabei sehr eng mit Deinen Augen zusammen. Die Hauptaufgaben bestehen daraus, Dich in Deiner Umgebung sicher und schnell bewegen zu können, sowie nicht von der Erdanziehungskraft zu Boden gezogen zu werden. Probleme des Gleichgewichtsystems können sich vielseitig zeigen:
- Allgemein schlechte Beweglichkeit: Da das Gleichgewicht ein System höherer Ordnung im Nervensystem ist, ist es durchaus möglich, dass dadurch die Muskeln intensiver (dauerhaft) arbeiten müssen, um diese Fehlfunktion zu kompensieren. Dein Gehirn will Dich schließlich nicht fallen sehen. Dadurch kann ein hoher allgemeiner Muskeltonus entstehen, der es Dir nicht mehr zulässt, große Bewegungsreichweiten ohne Schmerzen durchzuführen.
- Geringe Sprintgeschwindigkeit: kann Dein Gehirn nur unzureichend Daten aus Deinem Innenohr beziehen, verhält es sich ähnlich wie bei einer Autofahrt mit einem Auto bei Dunkelheit, Bodennebel und nur einem funktionierendem Vorderlicht. Du wirst in Deiner Power gebremst! Dein Gehirn kann die aktuelle Lage nicht einschätzen und drosselt Deine Power. Im ersten Moment denkbar schlecht, aber an sich ein guter Mechanismus, um Dich vor Verletzungen zu bewahren.
- Schlechte Kraftwerte bei Streckbewegungen (Kreuzheben etc.): Dein Gleichgewicht unterstütz die Streckmuskeln Deines Körpers. Bleibt diese Unterstützung aus, müssen Deine Streckmuskeln Aufgaben übernehmen, für die sie nicht vorgesehen sind. Das Resultat auch hier: herabgesetzte Performance.
- Es können psychische Probleme auftreten.
#5 Übung: Deshalb ist meine letzte Go-to-Übung der VOR – kurz für vestibulookulärer Reflex („Gleichgewichts-Augen-Reflex“). Seine Aufgabe: die Augen auf einem Objekt zu halten - trotz Kopfbewegung. Nimm Dir dafür einen Stift oder Deinen Daumen und visiere ihn gut an, während Du Ja- und Nein-Bewegungen mit Deinem Kopf ausführst. Die Geschwindigkeit Deiner Kopfbewegung sollte so angepasst sein, dass Du das ausgewählte Objekt immer scharf sehen kannst. Möglicherweise eignet sich ein Metronom/eine Metronom-App, um einen gleichmäßigen Takt für die Kopfbewegung vorzugeben. Athleten sollten hier auf 120 bpm kommen, ohne dass das Bild des Objekts verschwimmt.
Neuroathletik Training kann sehr effektiv sein
Um es noch einmal deutlich zu sagen: unser Nervensystem ist höchstindividuell. Die fünf von mir genannten Übungen können Dich auf Anhieb besser machen, allerdings ist es auch möglich, dass Du keine Veränderungen wahrnimmst oder vielleicht sogar genau das Gegenteil damit erreichst. Ziel der Übungen ist es, Deine Input- und Integrationssysteme Deines Nervensystems zu boosten. Versuche alle Drills mit voller Konzentration und ohne Ablenkung auszuführen.
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Solltest Du tiefer gehende Fragen zum Thema oder Probleme mit einer der Übungen haben, würde ich Dir empfehlen einen Neuroathletik-Trainer aufzusuchen, der Dir beim Blick in Dein Nervensystem behilflich sein kann.