Bewusstes Atmen sorgt dafür, dass wir mit Stress besser zurechtkommen, mehr Energie im Alltag haben und gleichzeitig auch positiver gestimmt sind. Problem dabei ist, dass die meisten Menschen "falsch" atmen. In diesem Artikel möchte ich Dir zeigen, wie Du mit gezielten, effektiven Atemübungen lernst, bewusst zu atmen.
Damit Du verstehst, warum eine bewusste Atmung so wichtig für Dich ist, möchte ich Dich zu Beginn an einer bestimmten Erfahrung aus meiner Vergangenheit teilhaben lassen. Vielleicht hast Du ja bereits ähnliche Erkenntnisse gemacht und findest Dich darin wieder.
Diese Erfahrung hat mir die Augen geöffnet
Anstatt wieder einen Sonntagabend vor Netflix zu verbringen, habe ich letztes Jahr öfters bei Online Sessions eines Atemtrainers teilgenommen. Ich wollte mein Selfcare Wissen noch mehr erweitern und einmal austesten, was mir guttut. Da ich im Yoga Atemübungen anwende, war mir schon bewusst, dass dies mehr als nur ein wichtiges Überlebenstool ist.
Aber das hatte ich nicht erwartet: Nachdem ich mindestens zwanzig Minuten lang liegend tief durch die Nase eingeatmet und entspannt durch den Mund ausgeatmet habe und immer wieder den Atem anhalten durfte, bemerkte ich: Wow, was für ein Effekt. Ganze ein bis zwei Minuten meine Luft entspannt anzuhalten, waren kein Problem. Das hätte ich nicht erwartet (hier muss erwähnt werden, dass ich aufgrund meiner Yogapraxis schon lange Atemübungen integriere und ggf. geübt war).
Nicht nur das, ich spürte auf einmal ein Kribbeln in den Fingern und eine Welle, die durch den Körper glitt. Zusätzlich stelle sich ein tiefgehendes Gefühl von Zufriedenheit und Zuversicht ein. Ehe ich mich versah, war eine Stunde vorbei. Über zwei Tage täglich zwei Stunden ein Training, das glücklich macht. Und all dies nur mit der Macht des Atmens.
Bevor Du weiterliest: setze Dich gerade hin, schließe Deine Augen und atme 10x bewusst ein und aus. Bringe Deinen Fokus auf das Ein- und Ausatmen durch die Nase. Entspanne dabei Deine Gesichtsmuskeln. Dann lies weiter.
Warum ist der Atem die Verbindung zwischen Körper und Geist?
Wir besitzen drei Nervensysteme. Eines davon ist das autonome Nervensystem. Das Wort sagt schon alles. Es funktioniert automatisch und steuert unter anderem unseren Herzschlag, unseren Verdauungstrakt, Blutdruck, unsere Hautregeneration und vieles mehr. Und dabei ist eines zu beobachten: Diese Vorgänge können wir eben nicht bewusst steuern. Leider kannst Du nicht aktiv eingreifen, wenn sich Dein Herzschlag bei mehreren hohen Sprüngen beschleunigt oder wenn Du Dich über eine/n Radfahrer*in aufregst, der/die Dir die Vorfahrt genommen hat.
Es gibt jedoch ein einziges Tool, welches selbst im Nervensystem verankert ist und mit welchem Du Einfluss auf genau diese automatischen Vorgänge hast. Es handelt sich dabei um die bewusste Atmung. Oder wie es viele gern nennen: Breathwork.
Denn, mit der Beruhigung der Atmung kann gleichzeitig der Herzschlag und der Geist zur Ruhe kommen. Dazu kommt, dass mit dem tiefen Einatmen Sauerstoff in den Zellen angereichert werden kann. Die Atmung kann uns sogar durch Hyperventilation und die resultierende Aktivität im Nervensystem in hochenergetische Zustände versetzen (bitte nur geübt und unter Aufsicht praktizieren).
Der Atem und das Entspannungssystem
Der Vagusnerv spielt, vor allem bei der Entspannung und Balance, eine wichtige Rolle. Dieser ist sozusagen der Nerven-Highway zwischen Gehirn und Magen. Aber auch Lunge, Herz und Leber verbindet er mit unserem Schaltzentrum. Er ist der wichtigste Nerv, um unser Entspannungssystem zu aktiveren und dem Körper mitzuteilen, dass wir sicher, geborgen und nicht in Gefahr sind.
Beispielsweise fühlen wir uns oft unsicher und unwohl, wenn wir einen Raum betreten, in welchem wir niemanden kennen. Die Alarmglocken gehen an, der Atem wird flacher und schneller, die Hände schwitzig und allerlei Gedanken kommen auf, wie: "Niemand mag mich! Was ist, wenn niemand mit mir spricht? Sie mustern mich alle…". Kommunikationsfähigkeit, klares Denken und Deine Wahrnehmung werden dabei benebelt, da Geist und Körper im Alarmzustand sind. Wenn wir dann im Raum doch jemanden entdecken, den wir wie einen sicheren Hafen ansteuern können, beruhigen sich diese Gedanken schnell. Resultierend daraus kann das Entspannungssystem aus Sicherheit, Geborgenheit und Authentizität eintreten. Hierfür ist der aktivierte Vagusnerv zuständig.
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Der Atem ist ein Teil des Körpers, mit welchem wir diesen Nerv aktiv stimulieren können. Dadurch beeinflussen wir folglich somit auch die unbewusste Stressantwort der Organe. Dementsprechend hilft das bewusste Wahrnehmen der flachen oder schneller werdenden Atmung, dem Stress aktiv gegenzusteuern. Es dient so als effektives Entspannungstraining. Denn mit einigen ruhigen Atemzügen können klarere Gedanken gefasst werden und impulsiven Reaktionen gegengesteuert werden.
Wenn ich große Vorträge bis zu 500 Personen, vor allem bei Präsenzveranstaltungen, gebe, atme ich davor immer sehr bewusst ein und aus, um die Aufregung zu beruhigen. Mein Fokus steigt, meine Stimme ist ruhiger und tiefer (schafft Vertrauen und Expertise) und ich bin voll und ganz präsent, ohne aufgeregt zu wirken.
Wissenschaftlich belegte Effekte der bewussten Atmung
1) Tägliche Atemübungen können die Lebenserwartung verlängern (Brown & Gerbarg, 2009, Yoga breathing, meditation and longevity).
2) Die Lungenkapazität wird erhöht, welche eine der größten Effekte auf die Lebenserwartung hat (noch mehr als Gene, Ernährung und Sport) (Nestor, 2020, Breath: the new sicence of a lost art).
3) Der Blutkreislauf wird gestärkt.
4) Die Konzentration und Energie erhöhen sich.
Atmung (Pranayama) und Yoga
Im Yoga spielt der Atem auch eine sehr wichtige Rolle. Damit ist dieser Aspekt fast noch wichtiger als die Asanas (Körperhaltungen im Yoga, die in der Regel statisch ausgeführt werden). Denn sie sind das bewusste Steuer des Geistes und des Körpers. Die frühen Yogis haben das schon immer erkannt. In vielen Klassen wird das Atmen aufgrund der Zeit oft vernachlässigt. Dabei ist es fast unerlässlich, da es den Geist auf die Stunde vorbereitet. Auch während der Stunde ist der Atem das Vehikel, welches uns durch kraftzehrende Asanas tragen kann. Diese Kraft benötigen wir vor allem auch dann, wenn der Geist schon aufgeben möchte.
Wie kannst Du den Atem für Dich einsetzen und mit Atemübungen starten?
Allgemeine Regeln:
• Man sollte immer langsam starten. Gerade bei Übungen, in welchen wir die Luft anhalten (Khumbaka), können bei zu schneller Steigerung Schwindel und Kopfschmerzen entstehen. Stoppe die Übung bei Überanstrengung bitte sofort. Stetigkeit und Geduld zahlen sich hier genauso wie in der Yogapraxis aus.
• Am besten übt man die längeren Atemübungen mind. 2-3h nach dem Essen oder direkt morgens auf leeren Magen.
• Du solltest nicht erkältet sein und davor die Nase putzen.
• Einen größeren Effekt haben die Übungen, wenn Du die Augen schließt und danach nachspürst, wie Du Dich fühlst.
• In den meisten Übungen wird durch die Nase geatmet, da diese einen schnelleren Effekt auf den Vagusnerv haben.
Tageszeit: Atemübungen sind auch sehr gut, um Dich auf eine Meditation vorzubereiten. Hier empfehle ich die beruhigenden Übungen weiter unten in den Beitrag. Morgens, bevor der Tag startet oder abends, direkt nach dem Arbeiten oder vor dem Schlafengehen, vor dem Yoga oder vor der Endentspannung. Es gibt nicht die richtige Uhrzeit. Nach dem Sport helfen beruhigende Übungen. Kurze Atemübungen können auch während des Tages praktiziert werden. Starte mit Deinen 1-3 Minuten am Tag. Das reicht völlig aus.
Körperhaltung: Du kannst die Übungen im Sitzen, Liegen oder Stehen praktizieren. Probiere es für Dich aus.
Ort: Natürlich haben das Meer, Berge oder der Wald aufgrund der Partikel in der Luft einen noch größeren Effekt. Aber auch jeglicher Ort, an dem Du in Ruhe abschalten kannst, ist hilfreich.
9 Atemübungen für Einsteiger und Fortgeschrittene
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#1 Die Basis - Ein- und Ausatmen: Der Anfang ist am wichtigsten. Denn die meisten von uns atmen viel zu flach, atmen oft ausschließlich durch den Mund und nutzen nicht die Möglichkeit der ganzen Lungenkapazität.
#2 Einatmen: Durch die Nase bewusst in den Bauch, Brustkorb, bis hin zu den Schulterspitzen atmen. Wahrnehmen, wo der Atem Raum schafft. Wenn Du bemerkst, dass es Dir schwerfällt, in den Bauch zu atmen, versuche Schritt für Schritt den Bauch nach außen zu wölben, wenn Du einatmest. Dieses Einatmen energetisiert Dich und steigert Deine Konzentration und Achtsamkeit.
#3 Halten: Halte den Atem am Anfang für zwei bis drei Sekunden an. Steigere die Länge über die Zeit. Das Halten der Atmung stärkt den Geist, die Anreicherung von Sauerstoff und schult die Konzentration.
#4 Ausatmen: Atme durch die Nase aus. Du kannst Dir vorstellen, dass Du die Gedanken mit ausatmest. So entsteht mehr innere Ruhe. Versuche das Ausatmen lange zu gestalten. Dieses Ausatmen reguliert unregelmäßiges Atmen. Geist und Körper werden ruhiger und das Nervensystem beruhigt sich.
#5 Die Vollatmung: Lasse den Atem in den Bauch fließen, der Bauch wölbt sich nach außen. Dann atme weiter in die Flanken ein, der Brustkorb weitet sich, bis hin zu den Schulterspitzen. Halte den Atem für 2-3 Sekunden und atme dann wieder durch die Nase aus. Senke erst den Brustkorb und werde dann leer, indem du den Bauchnabel Richtung Wirbelsäule ziehst (Methode nach Yesudian). Bleibe achtsam und lasse den Atem gleichförmig und lang fließen. Wiederhole dies 1-3 Minuten.
Kennst Du schon diese Atemübungen?
Neben der bewussten, aber natürlichen Atmung gibt es auch andere, ungewöhnlichere und durchaus effektive Atemübungen. Ich stelle Dir ein paar der bekanntesten Techniken vor.
#6 Die Wechselatmung (Nadi Shodana): Bei dieser Übung wird abwechselnd durch beide Nasenlöcher geatmet. Im Sitzen, aufgerichtet mit geschlossenen Augen: Der Daumen der rechten Hand verschließt nach dem Einatmen das rechte Nasenloch, durch links wird ausgeatmet, durch links wieder eingeatmet. Der Ringfinger verschließt das linke Nasenloch und der Daumen wird gelöst, um rechts wieder auszuatmen. Wiederhole dies mindestens zwei Minunten. Diese Atemübung kannst Du auch bis zu 10 Minuten durchführen.
"Nadi Shodhana ist eine Wechselatmung und dient der Reinigung der Atemwege und der Synchronisation beider Gehirnhälften." - Marion Neises
#7 Bienenatmung (Bhramari): Diese Atemübung ist eine meiner Lieblingsübungen – kurz und knackig in nur drei Atemzügen zu mehr Ruhe und Klarheit. Mich beruhigt diese Übung sehr. Bei der Bienenatmung wird durch das Summen beim Austatmen durch den Laut "SSSS" oder "MHHH" eine Vibration im Kopfraum erzeugt, die dabei hilft, die Gedanken zu beruhigen, mehr Klarheit zu schaffen und wieder zu fokussieren. Die Übung wird verstärkt, indem Du Deine Ohren mit Deinen Zeigefingern verschließt. Probiere es gleich mal aus.
Aktivierende Atemübungen
Diese fast schon skurrilen Atemtechniken haben es in sich. Ich empfehle Dir, diese unbedingt mal auszuprobieren.
#8 Wim-Hof-Atmung: Wim Hof, der "Iceman", der schon in der Arktis barfußig einen Marathon lief und den Guiness Weltrekord im Schwimmen unter Eis hält, bereitet seinen Geist und Körper immer durch Atemübungen vor. Tiefes einatmen, entspannt durch den Mund ausatmen und den Atem immer nach mehreren Runden wieder anhalten. Resultierend hilft ihm dies dabei, den Geist so zu konzentrieren, dass zum Beispiel beim Eisbaden körperliche Schmerzreaktionen kanalisiert werden und der achtsame, ruhige Geist das Kommando hat. Hier habe ich eine Anleitung dazu gefunden: https://www.youtube.com/watch?v=BckqffhrF1M&t=77s
#9 Die Feueratmung (Kalabhati): Diese aktivierende Atemübung wird oft am Anfang des Tages oder am Anfang einer Yogastunde angewendet. Aufgrund des kraftvollen Ausatmens durch die Nase, das durch schnelles, rhythmisches Einziehen und Anspannen des unteren Bauches praktiziert wird, sollte die Nase frei sein. Also vorher am besten die Nase putzen. Erst langsam starten und rund drei Runden je 20 Ausatemzüge praktizieren. Lege die Hand zur Hilfe auf den unteren Bauch. Die Einatmung kommt von alleine. Die Feueratmung reinigt die Nasengänge, energetisiert im Kopf, regt Stoffwechselprozesse an und stärkt das Zwerchfell.
Starte noch heute mit Deinen ersten Atemübungen!
Nun solltest Du erkannt haben, dass Atemübungen große Effekte auf den Körper haben können. Lasse Dich vorab von einem Arzt checken und starte erst bei den Basisübungen, damit Du lernst, Deinen Körper unter Kontrolle zu haben. Ich empfehle Dir, fortgeschrittene Techniken nur unter Aufsicht und mit Erfahrung praktizieren.
Schließlich kannst Du zusammenfassend bei Deinem Bedürfnis nach mehr Ruhe die Vollatmung, Bienenatmung oder Wechselatmung anwenden. Und wenn Du den Wunsch nach mehr Energie und Wachheit hast, die Feueratmung oder die Wim Hof Methode. Letztendlich geht es darum, dass Du die Macht Deines Atems wieder erkennst und diese für Dein gesundes Leben einsetzt, egal mit welcher Technik Du startest.